28.03.2022 – Sockel ohne Denkmäler

Gleich hinter der Promenade und dem Fähranleger beginnt die Innenstadt von Fort de France. Quadratisch angelegte Gassen mit zwei- bis dreistöckigen Häusern, der Fassaden verblichen sind und bei jedem fünften ist der Rollladen des Ladengeschäftes auch tagsüber geschlossen. Die Stadt ist ein bisschen abgerockt und trägt einen eher schmuddeligen Charakter zur Schau.

Überrascht sind wir, als wir um 17 Uhr alle Rollläden nach unten rattern und die Türen verschlossen werden. Tatsächlich ist hier fünf Uhr Schluss und die Straßen wirken verlassen. Auf einem kleinen Platz neben dem Einkaufszentrum sind noch zwei kleinen Buden geöffnet, an einer bekommen wir Fischkroketten, an der anderen kaufen wir zwei Bier und den lokalen Rumpunsch. Wir nippen reihum lange an dem Becherchen, denn das Zeug ist so stark, schießt sofort in die Adern und hat eher den Charakter von Medizin als Genuss. Um einen Tisch sitzen Einheimische, auch manche von ihnen haben einen kleinen weißen Becher mit dem Rum-Zuckerrohrsirup-Gemisch vor sich stehen und trommeln mit Löffeln und Händen einen Rhythmus. Der Vorsinger wechselt von Lied zu Lied, die Anderen setzen im Refrain oder der Wiederholung ein. Es erinnert ein bisschen an Sklavengesänge und Gospel. Irgendwie passt es ganz zu dem Dämmerzustand der Innenstadt.

Wir fragen uns nach dem Impfenztrum durch und erfahren, dass es abgebrannt ist. Die Frau von der Rettungswacht schickt uns zu einer Apotheke die Straße weiter hoch. Es ist eher eine Apothekenmall, wir laufen vorbei an langen Regalreihen in dem supermarktgroßen Raum. Im Untergeschoss geht es gemütlicher zu und wir warten vor einer kleinen Kabine zwischen den Regalen mit Inkontinenzwindeln auf die Krankenschwester. Sie schaut immer mal raus und versichert uns, dass wir gleich drankommen. Sie ist gut drauf, füllt das französische Formular, mit nur einer einzigen Nachfrage, für mich aus. Dann schaut sie mich durch ihre großen, runden, goldenen Brillengläser an und fragt ob ich Corona hatte. Danach überlegt sie, wie sie es jetzt machen kann und tippt dann eine ganze Weile auf ihrem Rechner rum. Damit überträgt sie meine ersten beiden Impfungen in das französische System und gleich im Anschluss bekomme ich meine Boosterimpfung für 32,80 €. Ich bin froh, dass es hier so reibungslos klappt und auch Fritz lässt sich seine drei Impfungen ins französische System übertragen. Das ist super, denn hier in Martinique werden wir an jedem Restaurant nach unseren Impfungen gefragt, meine liegen neun Monate zurück und werden damit bald ungültig und Fritz seine Dritte aus La Gomera gilt im QR-Code als erste von zwei Impfungen und zeigte beim Scannen ebenfalls ungültig an.

Wir wollen zur Marina, weil wir uns dort Schiffsausrüstungsläden erhoffen. Als Segler geht man in jeden Schiffsausrüster, an dem man vorbei kommt und man braucht immer irgendetwas. Es gibt stetig Verbesserungen und Reparaturen am Schiff, wir sind auf der Suche nach einer neuen Vorschot (Tau, mit dem man das Vorsegel fest zieht und von Seite zu Seite wechselt bei einer Wende), einem neuen Rettungsring und einem neuen Kescher. In der Mittagshitze laufen wir durch ein Wohnviertel am Hafen und der Weg ist viel länger und bergiger als wir dachten. Nach einer Dreiviertelstunde kommen wir an einer Bushaltestelle vorbei. Zwei Busse fahren ohne Anzuhalten vorbei. Wir sind so beschäftigt im Internet ein Ticket zu kaufen, dass wir zu spät aufspringen. Und die Fahrer kommen komischerweise nicht von selbst auf die Idee anzuhalten, wenn da zwei Gestalten mitten im Nichts in der Hafengegen sitzen. Der Bus auf dem Fahrplan kommt nicht und so beschließen wir den nächsten Bus zu nehmen, der uns passiert, egal wohin er fährt. Es kommt einer, seine Route ist nicht da wo wir hinwollen aber interessant. Wir kommen durch ein Viertel, in dem kleine, einfache Hütten dichtgedrängt und ineinander verschachtelt stehen. Im Nächsten sehen wir festere Häuser, aber auch sie scheinen ungeordnet durcheinander gebaut. Sie erinnern mich ein bisschen an die Spinnennetz Straßen von Tokyos Wohnvierteln. Auch noch die nächsten Tage stehen wir an der ein oder anderen Bushaltestelle und warten. Anscheinen fahren nur die Armen Bus, überall wo wir Leute nach einer Haltestelle fragen, wissen die Meisten gar nicht, ob es eine gibt. Die Busse kommen auch nicht zu der Zeit, die an dem Aushang steht, wenn sie überhaupt kommen. Also laufen wir oder nehmen irgendeinen. So kommen wir durch Gegenden, die teilweise richtig arm sind. Das europäische Martinique, was wir irgendwie erwartet hatten, muss woanders sein.

Fort de France ist wohl eher ursprünglich und ich bin immer wieder überrascht, wie präsent die Kolonialherrschaft hier noch ist. Ich hatte mir darüber noch nie richtig Gedanken gemacht, die Europäer haben schon ganz schön gewütet und ich begreife nicht ganz, mit welcher Selbstverständlichkeit, Arroganz und Überheblichkeit sie ans Werk gegangen sind. Da müssen wir froh sein, mit welcher Unvoreingenommenheit und Freundlichkeit uns die Menschen hier auf ihren Inseln willkommen heißen.

In der Stadt sehen wir einige Sockel, auf denen das Denkmal fehlt. In dem Park „Victor Schoelcher Square“ vor der Kunstgalerie sehen wir auch einen und fragen bei den Leuten vor Ort einmal nach. Erst verstehen sie nicht, was wir wollen und dann antwortet uns der farbige Hausmeister, der am besten Englisch spricht. Unser Wissen über Schoelcher stammt aus Wikipedia. Er war französischer Politiker, der sich für die Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien eingesetzt hat. Als Abgeordneter der Nationalversammlung für Martinique war er Initiator des Dekrets, dass die Abschaffung der Sklaverei festschrieb. So dachten wir, dass er hier verehrt wird, immerhin tragen ein Stadtviertel, Parks und eine Bibliothek seinen Namen. Der Mann erzählt uns, dass im Zuge der „Black lives matter“ Bewegung in den USA die Statuen von Schoelcher gestürzt wurden. Er hat sich zwar für die Abschaffung der Sklaverei eingesetzt, aber die Großgrundbesitzer haben Geld dafür bekommen, dass sie ihre Sklaven frei lassen. Die Sklaven selbst haben nichts bekommen, hatten nichts und wurden quasi mittellos in die Freiheit entlassen. Man kann sich leicht ausmalen, dass dies ihre neu errungene Freiheit erheblich eingeschränkt hat. Wir können nachvollziehen, was er uns erzählt, denken aber noch lange darüber nach, ob es vielleicht zu der Zeit politisch nicht anders möglich war.

Wir laufen fast jede Straße der Innenstadt einmal ab und kennen mittlerweile fast jede Ecke. Von Fritz seiner Brille ist ein Nasenpad abgebrochen und wir suchen jemanden, der es wieder anlöten kann. Im sechsten Optiker empfiehlt uns die Inhaberin einen kleinen Juwelier, der so Sachen reparieren kann. Sie meint, wenn er es nicht kann, dann Keiner und wir sollen genau hinschauen, man erkennt seinen Laden nicht gut. Das stimmt, wir sind zweimal daran vorbei gelaufen und erst dann schauen wir in einen kleinen dunklen Raum, in dem ein Schreibtisch steht, an dem sich ein älterer Mann über eine Lupe beugt. Über ihm leuchtet eine alte Schreibtischlampe seinen winzigen Arbeitsplatz aus. An den vergilbten Wänden hängen chinesische Kalender der letzten zehn Jahre und Osterschmuck aus Plastik einmal in Blau, einmal in Grün und in Rosa. Der Tresen direkt am Eingang ist aus verschiedenen Holzplatten zusammengefügt, auf denen Mobilfunkwerbung aufgedruckt ist. Deswegen erkennen wir auch erst auf dem zweiten Blick, dass es der Juwelier ist, den wir suchen. Er kann es machen, aber erst muss das Glas raus. Meine Kette, die unterwegs auf dem Atlantik gerissen ist, lassen wir gleich da. Zurück zur Optikerin, und eine halbe Stunde später stehen wir wieder bei ihm und schauen, mit welch ruhiger Hand er den Lötkolben führt. Super, dass es überhaupt noch solch kleine Handwerkbetriebe gibt. Fritz nimmt sein repariertes Brillengestell entgegen und wir können kaum erkennen, welches das abgebrochene Nasenpad war. Sehr gute Arbeit, er lacht und freut sich.

Bei der Optikerin lassen wir wieder die Gläser einsetzen und sprechen auch sie auf die Schoelcher Statuen an. Sie erzählt genau die gleiche Geschichte und ist der gleichen Meinung, wie der Mann gestern Abend. Heute haben wir eine kleine Demonstration zur Unabhängigkeit von Martinique gesehen. Auch sie würde gern unabhängig von Frankreich sein, hält es aber für wenig aussichtsreich. Die Staatsangestellten bekommen 14 Prozent mehr Lohn als in Frankreich, weil die Lebenshaltungskosten hier so hoch sind. Sie erzählt, dass auf allen Waren 20% extra „Inselsteuer“ aufgeschlagen werden und sie schätzt, dass die Abgaben an Frankreich ungefähr die Zuschüsse aus dem Mutterland aufwiegen. Uns erstaunt, dass Martinique keine Universität hat, jeder, der eine weiterführende Ausbildung machen möchte, muss nach Frankreich. Sie meint, dass es eine Oberschicht gibt, die Mittelschicht sind die Staatsangestellten und der Rest ist arm. Unter ihnen ist Alkohol und auch Drogen ein großes Problem, denn Martinique ist der Drogenumschlagplatz von Kolumbien nach Frankreich.

Andreas sein Urlaub neigt sich dem Ende, ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann wir zum letzten Mal so viel Zeit miteinander verbracht haben. Wahrscheinlich als wir beide noch zu Hause gewohnt haben. Es war schön mal wieder so etwas wie Alltag zusammen zu haben. Zum Abschied werden wir zum Sushi eingeladen, genehmigen uns eine gute Flasche Wein und als ich Andreas am nächsten Morgen zum Steg fahre, meint er, das war also die Emma, mein Zuhause der letzten drei Wochen. Vom Boot aus schaue ich der Fähre nach, Tschüss Bruderherz, schön dass du da warst.

Am Steg hören wir „Hallo Emma“. Es sind Stephanie und Luciano von der Metusadona, neben denen wir in der Marina Rubicon auf Lanzarote lagen. Wir quatschen eine Weile und verabreden uns für heute Abend in der Hotelbar L’Imperatrice. Alles ist Thema, Politik in Brasilien, denn Luciano ist Brasilianer, der Brexit, denn sie kommen aus Großbritannien, die Medien und ihr Einfluss auf die Gesellschaft, das Segeln, Erfahrungen und Missgeschicke beim Segeln und irgendwann landen wir bei Kakerlaken. Gerade hier in der Stadt sehe ich viele und als wir am Dingi Steg stehen, juckt sich jeder mal am Bein und schlägt irgendetwas weg, obwohl Nichts da ist. Wir haben wahrscheinlich zu lange über diese Insekten gesprochen und genau in dem Moment sagt Luciano, dass er eine im Cockpit ihres Schiffes gesehen hat. Stephanie ist entsetzt und meint wann das gewesen sei. „Gestern“ „Warum hast du nichts gesagt, wann wolltest du mir es sagen“ „Es war noch nicht der richtige Moment.“ Irgendwann müssen wir alle über die gelungene Situationskomik lachen.

Heute Nachmittag lässt die Lilly Maid ihren Anker fallen. Das freut uns, denn Mickey und Allison kennen wir von vor zwei Jahren, auch sie haben uns in Hog Island geholfen und Mickey war Zeuge beim Kaufvertrag von Edwins Schiff. Abends fahren wir zu ihnen rüber, Allison erkennt uns gleich, Mickey (86 Jahre) schaut etwas verwirrt und sagt zu ihr: „Bitte sie rein, sie sollen an Bord kommen.“ Wir sitzen unten in ihrem Schiffsbauch und dann fällt auch ihm wieder ein wer wir sind und sie freuen sich, dass wir unseren Traum verwirklicht haben, mit unserem eigenen Schiff über den Atlantik zu kommen. Es ist lustig mit ihnen zusammen zu sitzen. Er ist ein Seebär, Salzbuckel, auch ein kleiner Trunkenbold. Sie leben seit 45 Jahren auf dem Schiff, haben drei Kinder unterwegs groß gezogen. Und jetzt lacht Mickey, „Sind wir nur noch Touristen.“ Sie liegen die meiste Zeit in Grenada und fahren die Inseln nach Norden bis Martinique zum Einkaufen. Wir trinken einen Merlot aus dem LeaderPrize Supermarkt und ich sage, der ist ganz gut, da holen wir morgen auch noch welchen davon. Er lacht verschmitzt in sich hinein. Allison meint: „da werdet ihr vielleicht kein Glück haben, wir haben alles davon gekauft.“ Und so ist es auch, der Merlot ist ausverkauft.

Aber wir befolgen ihren Rat, hier in Martinique haltbare Sachen einzukaufen. Am Morgen fahren wir in die Werft und lassen unser Sprayhood (Verdeck über dem Niedergang) nähen. Durch die Sonne und das Salzwasser sind oben die Nähte und der Stoff gerissen. Schnell stimmen wir dem Preis von 50 Euro zu, bauen es ab und bringen es in die Werkstatt. Um 13 Uhr können wir es abholen. Bis dahin drücken wir uns in den Schiffsausrüsterläden rum, kaufen eine neue Vorschot und einen neuen Kescher. Tanken Wasser, werden unseren ganzen Müll los und treffen noch einmal auf Stephanie und Luciano. Nachmittags geht’s dann zu Großeinkauf und Abends in den Waschsalon. Hier treffe ich auf den ersten Trockner der Reise, bei dem nach 24 Minuten die Wäsche tatsächlich trocken ist. Sehr gut, ich freue mich, denn die Sonne zum Nachtrocknen ist schon lange untergegangen.

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